159.624 Schritte und ein unvergessliches Erlebnis

Reisen
Julia Wendy / 23.08.2017
Gruppenfoto beim Wandern vor einer Kirche

Ja, ich bin nach Mariazell gepilgert und habe somit geschafft, was ich selbst nicht ganz für möglich gehalten habe und wofür ich im Vorfeld von Verwandten, Bekannten und FreundInnen nur ungläubige Blicke geerntet habe. Ich habe tolle Erfahrungen gemacht und bin an meine Grenzen gegangen, habe neue Freundschaften geschlossen und nicht zuletzt auch Neues über mich selbst gelernt. Doch von Anfang an.

Wegweiser im Wald

Challenge Nummer 1: Rucksack packen

Ich sitze in meinem Zimmer am Boden und frage mich, wie denn alle Sachen, die rund um mich verstreut liegen, je in diesen Wanderrucksack passen sollen. Nachdem wir nach dem Motto „Weniger ist mehr“ auf ein Begleitfahrzeug verzichten, muss ich beim Einpacken abwägen, was es denn wirklich wert ist, rund 100 km auf dem Rücken mitgeschleppt zu werden. Gut, das Schminkzeug bleibt daheim, aber die Sonnencreme muss mit und soll ich nicht noch ein zusätzliches T-Shirt einpacken? Keine leichte Aufgabe für jemanden, der normalerweise nach dem Prinzip „Alles in den Koffer werfen, draufsetzen, Koffer zu“ packt.

Los geht´s

Tags darauf macht sich ein bunt gemischtes Grüppchen aus SchülerInnen und LehrerInnen meiner Schule voll motiviert mit dem Zug auf den Weg nach Heiligenkreuz, wo unser Fußmarsch beginnen soll. Da das Ganze ein freiwilliges klassenübergreifendes Projekt ist, kennen sich manche noch gar nicht, doch das soll sich bald ändern. Nachdem wir im Stift Heiligenkreuz den Pilgersegen empfangen haben, wandern wir auch schon munter los. An Gesprächsthemen mangelte es nicht, muss doch die mündliche Matura, die erst einige Tage zurückliegt, eifrig nachbesprochen werden. Außerdem wird erörtert, was denn nun an dieser Weisheit dran ist, dass man am besten während der ganzen Wanderung dieselben Socken trägt. Ob das wirklich jemand ausprobieren möchte?

Die ersten Kilometer sind ganz gemütlich, doch später wird heftig diskutiert, ob wir nun gerade einen Berg oder doch nur einen Hügel hinaufmarschieren. Unsere Füße hätten mit Sicherheit für ersteres gestimmt.

Wandergruppe am Weg

Von netten Gasthäusern, kühlen Kirchen und einer Orientierungspanne

Zwischendurch werden immer wieder Stopps in kleinen Gasthäusern eingelegt, wo wir – dank unserer Rucksäcke deutlich als PilgerInnen erkennbar – immer freundlich empfangen werden und auch mal das WC benutzen dürfen, ohne etwas zu konsumieren. Außerdem machen wir an einigen Kirchen Halt, was nicht nur als Gelegenheit zum beten und Kerzerl anzünden wahrgenommen wird, sondern auch als willkommene Möglichkeit, einmal den Rucksack abzustellen und Rücken und Füße zu entlasten. Und wir, als gesangsbegeisterte Gruppe, können es natürlich auch nicht lassen, die Akustik mit dreistimmigem Gesang auszutesten.

Obwohl wir im Großen und Ganzen von uns behaupten können, den Weg ganz gut gefunden zu haben, müssen wir schon am ersten Nachmittag zugeben, dass wir uns ein bisschen verlaufen haben. Denn nein, der steile Schotterweg ist vermutlich nicht der im Wanderführer beschriebene „ebene Radweg“. Doch die kleine Panne wird mit Humor genommen.

Mädchen beim Wandern

Am Abend kommen wir – endlich – fix und fertig in unserem Quartier in Kaumberg an  und freuen uns nur mehr auf Dusche und Bett. Dort verweilen wir allerdings viel zu kurz, denn um 6:30 Uhr ist schon wieder Tagwache. 

Julia mit Rucksack

Berg, bergiger, am bergigsten

Heute wird die Hügel-Berg-Diskussion beigelegt, denn wir haben das Gefühl wir müssen auf den höchsten Berg, auf den wir je hinaufgegangen sind. Immer wieder glaubt man endlich oben zu sein - doch nach einem kurzen flachen Stück offenbart sich die nächste Steigung. Unter all der Anstrengung wird aber doch schnell unser Gemeinschaftssinn bemerkbar. Egal ob es darum geht, jemanden zum Weitergehen zu motivieren, oder die Wasserflasche einmal im Kreis zu reichen, obwohl man selbst nicht mehr viel hat – wir halten zusammen. Und schließlich wird der mühsame Aufstieg sogar mit einem wirklich atemberaubenden Ausblick belohnt. Der Weg führt weiter abwechselnd durch Waldstücke und über schöne Wiesen, sodass man fast glaubt in einem Heidi-Film gelandet zu sein.

Blick über den Felsen ins Tal

Während einige von uns nun still die Natur genießen und nachdenken wollen, haben sich andere immer noch etwas zu erzählen. Doch es werden Kompromisse gefunden und selbst ich als kleines Plappermäulchen schaffe es, eine Zeit lang die Klappe zu halten.
Die anstrengendste Strecke ist das „kurze“ Stück am Schluss, das dann doch nicht ganz so kurz war. Die Füße rebellieren, aber ein Blick auf den Schrittzähler zeigt, dass sie dazu allen Grund haben: 29 km pro Tag sind ja nicht so alltäglich. Trotz aller Erschöpfung finden wir abends noch Zeit für eine lustige Runde „Werwolf“, bei der man sich ja Gott sei Dank nicht viel bewegen muss.

Probleme und noch mehr Lösungen

Der dritte Tag hat es in sich. Die Wege sind zwar nicht mehr so steil, aber ich merke ganz deutlich, dass mir die letzten beiden Tage in den Knochen stecken. Hinzu kommt, dass wir zwar immer noch durch eine sehr idyllische Landschaft wandern, sich allerdings weit und breit kein Gasthaus oder ähnliches befindet, wo wir die Wasserflaschen auffüllen könnten. Mein Ausweg ist schließlich ein klarer Gebirgsbach (und an alle die an der Wasserqualität gezweifelt haben: Ich leb noch immer!).

Als die Idee des Tages entpuppt sich meine Entscheidung, die drückenden Wanderschuhe gegen bequeme Trekkingsandalen einzutauschen, und Modesünden wie Sandalen mit Socken sind mittlerweile allen egal.

Wandergruppe

Schließlich kommen wir gegen 18 Uhr in St. Ägyd an und müssen eingestehen, dass die restliche für heute geplante Etappe wohl schwierig werden wird. Einige haben sich blasenbedingt darauf versteift, keinen Schritt mehr zu gehen und selbst die motivierten WanderInnen müssen einsehen, dass sie erst im Finsteren im Quartier ankommen würden. Was dann kommt, ist wirkliche Hilfsbereitschaft. Binnen einer Viertelstunde haben sich Leute gefunden, die sich ohne weiteres bereit erklären, eine 18-köpfige Pilgergruppe das letzte Stück zu chauffieren. „Sicher, wir räumen nur mehr schnell unsere Autos aus!“, und wir können gar nicht so schnell schauen, haben die Gastleute, bei denen wir eingekehrt sind, unsere Rucksäcke eingeladen und fahren schon mit der ersten Fuhre los. Auch die Wirtin, bei der wir übernachten, mobilisiert schnell Personal, das den Rest von uns abholt. Da heutzutage solch bedingungslose Hilfsbereitschaft ja leider nicht selbstverständlich ist, war es für mich ein beeindruckendes und schönes Erlebnis, diese zu erfahren.

Endlich in der Herberge sitzen wir am Bett und übertrumpfen uns gegenseitig, wer wie viele Blasen hat. Blasenpflaster hätte man in dieser Situation wahrscheinlich zu Höchstpreisen versteigern können. Später stellen wir fest, dass in Sachen Mobilfunknetze fast nichts funktioniert, doch netterweise werden Handys mit Empfang mittlerweile genauso wie Duschgel und Blasenpflaster zur allgemeinen Verfügung gestellt. Nach einigen unanständigen Liedern über Blasen und der fast schon obligatorischen Runde Werwolf geht der anstrengende Tag etwas früh zu Ende, haben wir doch beschlossen, morgen WIRKLICH früh aufzustehen.

Ziel in Sicht

5:30 Uhr Tagwache. Trotz Müdigkeit sind wir voll motiviert, denn das Ziel scheint erreichbar. Das Highlight des Tages (oder der ganzen Wallfahrt) ist eine Abkühlung im eiskalten Hubertussee, nach der wir munter und erfrischt die letzten Kilometer Richtung Mariazell in Angriff nehmen.

Hubertussee

Es ist ein Gefühl der Erleichterung, als wir am frühen Nachmittag endlich die berühmte rot-weiße Basilika erblicken. Jetzt steht fest: wir haben es wirklich geschafft. Anstatt einen Endspurt hinzulegen müssen wir jetzt aber erst einmal stehen bleiben – schließlich muss dieser Moment auf unzähligen Fotos festgehalten und in die Snapchat-Story gestellt werden. Dann führt unser Weg traditionell schnurstracks in die kühle Basilika, wo ich noch einmal Zeit finde, die Ereignisse der letzten Tage in Stille Revue passieren zu lassen. Danach geht’s weiter in die Kerzerlgruft. Nachdem wir nicht nur unser Quartier gefunden und bezogen, sondern auch noch jubelnd festgestellt haben, dass wir eindeutig das Zimmer mit dem besten Ausblick ergattert haben, werden einmal Verwandte, Bekannte, FreundInnen und alle die uns sonst noch so einfallen benachrichtigt, dass wir wohlauf am Ziel angekommen sind. Nun sind plötzlich alle Schmerzen vergessen und wir legen einen wahren Shopping-Marathon bei den Marktständen rund um die Basilika hin. Hier ein Magnet, dort eine Kette und ganz ganz viele Engerl… die Erschöpfung hat sich in Begeisterung verwandelt. Schlussendlich darf auch ein Besuch beim Lebkuchengeschäft „Pirker“ nicht fehlen und natürlich werden – ob kitschig oder nicht – auch einige Lebkuchenherzen gekauft.

Blick auf Mariazell

Endlich entspannen

Entgegen unseres ursprünglichen Plans, schon in der Früh mit dem Zug die Heimreise anzutreten, nutzen wir am letzten Tag noch das schöne Wetter für einen Badetag am Erlaufsee. Während einige doch wirklich noch die sportliche Motivation aufbringen ein Tretboot bzw. ein Ruderboot zu mieten, schonen andere lieber im Elektroboot die Füße. Viel früher als uns lieb ist, müssen wir aber dann doch aufbrechen, dauert doch die Zugfahrt fast vier Stunden. Die wissen wir uns aber ganz gut mit Wer-bin-ich spielen, Black Storys und singen zu vertreiben – und über letzteres hat sich ehrlich bis zum Schluss niemand beschwert.

Erlaufsee

Irgendwas, das bleibt

Neben vielen Schmerzen und Blasen wird mir vor allem die Gemeinschaft in Erinnerung bleiben, die sich in dieser kurzen Zeit gebildet hat. Nach einem Schuljahr voller lernen war es auch eine tolle Sache, wenn auf der To-do-Liste nur „gehen“ und „nachdenken“ stand – auch wenn das manchmal schon zu viel verlangt war. Trotzdem ist es ein tolles Gefühl, beim abendlichen Blick in den Spiegel nicht nur den kleinen Sonnenbrand auf der Nase zu entdecken, sondern sich auch stolz sagen zu können, etwas geschafft zu haben.

Ob ich das alles noch einmal machen würde? Naja, als ich heimgekommen bin und die Wanderschuhe ins Eck geflogen sind, hätte ich diese Frage höchstwahrscheinlich mit einem „Nein“ beantwortet. Mittlerweile bin ich mir da nicht mehr ganz so sicher…

Gruppenfoto vor Basilika

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Jugendportal.at wurde zuletzt am 23.04.2024 bearbeitet.

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