Die documenta - it's all about perspective!

Kultur & Events
Theresa Rauch / 07.08.2017
(c) Theresa Rauch

Eine alte Dame sieht mich an, ich erwidere ihren verwunderten Blick, wende mich – wie sie – mit einem verlegenen Lächeln ab und schaue betreten zu Boden.
An den beiden Enden des Ganges, in dem wir uns begegnet sind, hängen G36-Sturmgewehre. Die Läufe sind durch kleine Fenster an den Kanten einer Kammer auf deren Mitte gerichtet. Es steht den Besucher*innen frei, sich in die Mitte jener Kammer zu begeben und auf sich zielen zu lassen, oder selbst nach der perfekt imitierten Fälschung zu greifen und den Finger auf den Abdruck zu legen.
Ich stehe in der Kammer und wundere mich, was uns Kunst nicht alles fühlen lassen kann.

 

(c) Theresa Rauch

 

(c) Theresa Rauch

 

Seit 1952 wird in der nordhessischen Stadt Kassel im fünf-Jahres-Intervall die Großausstellung documenta veranstaltet. In dutzenden Locations verteilt in der gesamten Stadt stellen internationale Kunstschaffende ihre zeitgenössischen Werke aus.

Das Augenmerk der diesjährigen documenta 14 liegt u.a. auf den Themen Flucht und Vertreibung, Meinungsfreiheit, Kolonialismus und kulturelle Portraits. Zudem soll Betrachter*innen ein neuer Zugang zur Kunst ermöglicht werden, der auf einer alternativen, interrogativen Kunstvermittlung basiert: die documenta-Guides gestalten ihre Spaziergänge auf interaktive und reziproke Weise. Anders gesagt: es herrscht viel Platz für Meinungsaustausch und Diskurs.
Hierbei geht es vorrangig darum, unterschiedliche Interpretationen aufzuarbeiten und hinter die Motive von gewissen Darstellungen zu blicken.
Als Illustration dieser Taktik kann folgende Fragestellung herangezogen werden: Wieso lernt man in vielen englischsprachigen Schulen vom ‚Great War‘, während deutschsprachig vom ‚Ersten Weltkrieg‘ die Rede ist?

 

(c) Theresa Rauch

 

Anhand dieser Ausarbeitung soll auch genauer betrachtet werden wie Museen mit geschichtlichen Inhalten umgehen. Ist die Repräsentation parteiisch? Idealisiert? Real?
Eine Kunst- und Sozialanthropologie-Studentin in der Kasseler Neuen Galerie sieht das Problem häufig bei Sprache und Wortwahl verortet. So meint sie etwa, dass wir die Geschichte des Kolonialismus als absolut richtig, universell und zweifelsfrei deklarieren.  Ist allerdings die Rede von einer Geschichte des Kolonialismus, bleibt offen, aus welcher Perspektive und mit welcher Schlussfolgerung erzählt wird. Gänzlich reine Objektivität sei schwer zu erreichen, doch mit sprachlicher Einfühlsamkeit kann zumindest Platz für Diskurs und Interpretation geschaffen werden.
Der eben genannte Kolonialismus, oder vielmehr eine Auffassung davon, wird intensiv in der Neuen Galerie aufgearbeitet. Eines der Ausstellungsobjekte ist eine Originalausgabe des sogenannten Code Noir. Hierbei handelt es sich um ein um 1685 entstandenes Dokument, welches den Umgang mit Sklav*innen in den französischen Kolonien regelte. Sein handliches Format dokumentiert die Alltäglichkeit, mit der jene Vorschriften realisiert wurden.
Unterschiedliche Umgangsweisen dieser Politik wurden für die documenta u.a. auch mit Schulklassen erarbeitet, ganz im Sinne der alternativen Kunstvermittlung.

 

(c) Theresa Rauch

 

In einem der Haupthäuser der documenta, dem Fridericianum, das zudem als erstes öffentliches Museum Europas gilt, wird stark an die Themen Migration und Flucht angeknüpft. Das Aushängeschild der diesjährigen documenta bleibt jedoch das meterhohe Parthenon-Gerüst direkt davor. Die Wahl jener Architektur ist mit der diesjährigen Partnerstadt zu begründen: Athen agierte von 8. April bis 16. Juli 2017 als zweite documenta-Stadt.

Der Kasseler Parthenon besteht allerdings weder aus Marmor, noch anderem Gestein, sondern aus Stahl, Plastik und – einem eher exotischen Baumaterial – Büchern. Der Fänger im Roggen, Sternstunden der Menschheit, Faust und Harry Potter. 100.000 Bücher wurden für jene Kreation der argentinischen Konzeptkünstlerin Marta Minujín gesammelt. Allesamt Werke, die einst oder gegenwärtig aufgrund unterschiedlicher Inhalte als verboten gelten/galten.
Die Wahl des Standorts des Parthenon of Books ist auf historische Ereignisse zurückzuführen: am 19. Mai 1933 wurden im Zuge der sogenannten „Aktion wider den undeutschen Geist“ rund 2.000 Bücher am Friedrichsplatz von Nationalsozialisten verbrannt. Minujín verweist somit auf die Notwendigkeit uneingeschränkter Meinungs- und Pressefreiheit und schafft somit ihre Assoziation zum documenta-Thema.

 

(c) Theresa Rauch

 

Als zeitgenössische und dennoch zeitlose Ausstellung verfolgt die documenta 14 ein klar definiertes, vielseitig präsentes Ziel: das Aufbrechen einer Bildungskultur, wie sie bis heute besteht. Gegebenes Wissen - aus Büchern, Überlieferungen, aus dem Mund einer Lehrperson - soll hinterfragt, gerne auch angezweifelt werden.

Wie Joachim Ringelnatz es ausdrücken würde, dessen Bücher sich ein Schicksal mit denen Zweigs, Hesses und Manns teilten: Sicher ist, dass Nichts sicher ist. Selbst das nicht.

 

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Jugendportal.at wurde zuletzt am 16.04.2024 bearbeitet.

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