Die Klettergerüst-Philosophie

Leben
Detailaufnahme von nackten Füßen auf Kletterwand

Auch wenn wir uns zur Zeit gegenseitig furchtbar auf die Nerven gehen und sie schon die Stunden zählen, wann ich endlich ausziehe, bin ich meinen Eltern doch sehr dankbar, für alles, was sie mir beigebracht haben. Eine sehr weise Lektion, deren Tragweite ich erst kürzlich begriffen habe, kommt von der Einstellung, mit der meine Mutter ihr Leben bestreitet. Sie nennt sie die „Klettergerüst-Philosophie“ und erklärt sie mir so:

Du kannst jede Herausforderung in deinem Leben meistern, solange du weißt, auf welchem Weg du dein Ziel erreichst. Der beste Vergleich, um diese Erkenntnis in jeder Lebenssituation anzuwenden, ist der mit dem Klettergerüst auf dem Kinderspielplatz:

Ein Kind will unbedingt die oberste Plattform eines Klettergerüstes erreichen. Es schreit auf und wird von seinen Eltern sofort ganz nach oben gehoben, weil es noch nicht alleine hinaufklettern kann. Jetzt sitzt es da, und kann weder die Höhe noch die eigenen Fähigkeiten, sich selbst nicht in Gefahr zu bringen, abschätzen. Es hat keine Ahnung, welche Mühe und vielleicht auch Überwindung es gekostet hätte, das Hindernis selbst zu erklimmen. Außerdem kann das Kind sehr wahrscheinlich nicht mehr alleine hinunterkommen. Es steck jetzt in dieser Lage fest und ist erneut auf Hilfe angewiesen. Was macht es also, wenn Mama und Papa einmal nicht sofort zur Stelle sind? Es wird nicht immer jemand da sein, um dich von ganz unten nach oben zu heben.

Aber will man das überhaupt? Ist es nicht viel schöner, selbst in der Lage zu sein, seine Ziele zu erreichen? Ob sie jetzt darin bestehen, das Klettergerüst zu erklimmen, die Schule erfolgreich abzuschließen oder eine Beförderung im Job zu bekommen, ist völlig egal.

Der Grundstein für ein selbstständiges und unabhängiges Leben wird - meiner Mutter nach - also bereits am Spielplatz in den ersten Jahren eines Menschenlebens gelegt.

Dasselbe Szenario noch einmal mit angewendeter Klettergerüst-Philosophie:

Besagtes Kind wird jetzt nicht einfach nach oben gehoben. Es soll sich selbst versuchen. An diesem Tag wird es dem Kind einhundert-prozentig nicht gelingen ohne Hilfe, das gleiche Ergebnis zu erzielen. Es wird vielleicht ein paar Mal herunterfallen. Vielleicht hat es auch Angst vor der Höhe und ist im Endeffekt mit der Hälfte des Weges genauso zufrieden oder es findet heraus, dass Schaukeln viel mehr Spaß macht. In jedem dieser Fälle kann das Kind die Situation, in die es sich begibt, selbst steuern und hat Einfluss auf sie.

Und das Schönste an der ganzen Sache ist, dass selbst, wenn es irgendwann endlich oben angekommen ist und dann wieder hinunter fällt - ihr könnt euch denken, was jetzt kommt - dieses Kind eine unschätzbar wertvolle Fähigkeit in seinen Erfahrungsschatz aufgenommen hat: es weiß jetzt, wie es an sein Ziel gelangt - und zwar ganz ohne auf jemand anderes angewiesen zu sein.

Für jeden Menschen in jeder Lebenslage - ob als Kind vor dem Klettergerüst, als Studentin oder Student vor der ersten großen Prüfung oder als erwachsene Person vor dem Jobverlust - gilt: Egal wie weit du hinunterfällst und egal wie viel du verlierst, du wirst immer wissen, wie du wieder hinaufkommst, wie du dir Dinge wieder aufbauen kannst. Gib also nicht gleich auf, wenn etwas nicht funktioniert und suche dir nicht gleich jemanden, der dich ganz nach oben hebt. Finde deinen eigenen Weg.

Denn sich selbst aus der Scheiße ziehen zu können, bedeutet Freiheit und bedeutet zu leben.

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Jugendportal.at wurde zuletzt am 17.04.2024 bearbeitet.

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