gerade nicht normal

Kultur & Events
Pauline Tagwerker / 19.12.2017
Schreibendes Mädchen

Hier stellen wir Pauline Tagwerkers Text "gerade nicht normal vor", der beim Preis für junge Literatur texte.wien 2017 den 2. Platz belegt hat. Das Jugendportal gratuliert ganz herzlich!

 

Uhr rennt, Zeit läuft. Tick tack.

Ich stehe in einem Raum. Ich stehe, stehe, stehe, stehe nicht normal. Umgedreht. Ich stehe verkehrt. Füße in der Luft, Hände auf dem Boden. Kopfüber. An der Wand lehnend. Warum an der Wand lehnend? Weil kopfüber Sehen anstrengend genug ist. Kopfüber Stehen ist zu viel. Zu viel des Guten. Deswegen lehne ich an der Wand.

Uhr rennt, Zeit läuft. Tick tack.

Fuß über Hals über Kopf stehen, heißt Fuß über Hals über Kopf denken. Heißt verkehrt denken, anders denken. Warum? Weil ich Füße statt Gesichter sehe. Sehe Schuhsohle statt Lächeln, Schnürsenkel statt Augenbrauen. Sehe alles verkehrt an und sehe selber verkehrt aus. Denn das bin ich ja. Verkehrt in einer 180° anders eingestellten Welt. Ich bin kopfüber an der Wand stehend. Bin gerade nicht normal.

Uhr rennt, Zeit läuft. Tick tack.

Meine Arme zittern. Mal leicht, mal fester, espenlaubähnlich. Die Kraft fehlt, fehlt, fehlt, fehlt langsam. Ich atme schneller, schneller hebt sich die Brust, senkt sich die Brust. Aber irgendwie ist der Atem nie da. Der Rücken schmerzt, ich sollte Acht geben, dass ich ihn gerade an der Wand anlehne, immer mache ich einen leichten Rundrücken. So muss er ja wehtun. Gedanken aus meinem Körper fließen mit Blut, viel Blut, in meinen Kopf, statt dass die Gedanken aus meinem Kopf mit Blut in meinen Körper fließen. Mein Gesicht ist krebsrot, der Schweiß tropft von meiner Nasenspitze auf den Boden.

Uhr rennt, Zeit läuft. Tick tack.

Leute kommen herein, andere gehen aus. Sie beachten mich kaum, gar nicht. Sind mit sich beschäftigt. Manche würdigen mich eines stirngerunzelten Blickes, an der Decke entlanggehend. Sieht verkehrt aus. So wie ich mich fühle. Verkehrt in einer 180° anders eingestellten Welt. Ich kann die Leute nicht mehr konfrontieren, nicht mehr mit ihnen diskutieren. Aber ich werde ihnen so schnell auch nichts mehr abkaufen, weil sie lügen mir in den Fuß, nicht ins Gesicht. Füße bleiben unbeeindruckt. Mein Gesicht ist am Boden, betrachtet andere Füße genau. Kann nicht sagen, ob sie gut sind, kann nicht sagen, ob sie schlecht sind. Weiche Ferse, harte Sohle? Harte Ferse, weiche Sohle? Ist nicht dasselbe wie harte Schale, weicher Kern. Still Nachdenken und Analysieren kann ich, nur nicht dauerhaft. Kann nicht immer verkehrt stehen. Ist begrenzt, begrenzt auf Zeit.

Uhr rennt, Zeit läuft. Tick tack.

Heute Morgen in der Tram. Der Gedanke kommt mit der nächsten Ladung Blut, produziert dreieinhalb Schweißtropfen. Heute Morgen in der Tram ist mir etwas aufgefallen. Tramfahren heißt Gesellschaft verstehen. Tramfahren heißt begreifen, dass man dem Sog der Gesellschaft nicht entgehen kann. Man kann gegen die Fahrtrichtung sitzen; wird trotzdem weiter mitgenommen. Man kann gegen die Fahrtrichtung laufen; wird trotzdem weiter mitgenommen. Weiter, weiter, weiter, weiter mitgenommen. Rebellieren heißt nur, den Menschen den Rücken zuzukehren, wie jetzt der Wand, aber trotzdem auf den Sog zu warten.

Uhr rennt, Zeit läuft. Tick tack.

Die Realität ist mir in den Kopf geflossen, ich halte mich zusätzlich am Boden fest. Hochmut und Stolz ist den anderen an der Decke zu Kopf gestiegen, dort bewahrt keiner Bodenkontakt. Was ist besser? Keine Antwort. Kann nur sagen, dass kopfüber Sehen und Stehen jetzt zu viel ist. Was zu viel? Zu viel Blut, zu viel Schweiß, zu viel Kraft, zu wenig Atem. Will zurück, zurück ins Leben, 180° richtig, nicht kopfüber, zurück auf den Boden der Tatsachen. Also stoße ich mich ab, weg von der Wand.

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Jugendportal.at wurde zuletzt am 23.04.2024 bearbeitet.

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