Interrail oder das Wunder Europa

Reisen
Andrea Ortner / 09.08.2018
Interrail

„An Kaffee und a Tschick?! Eher a Dusch´ und a Bett!“ (nach 20h Bus- und Zugfahrt)     #interrailmoments

Sommerzeit ist Interrailzeit. Und da die EU ab diesem Jahr ein gewisses Kontingent an gratis Interrail-Pässen an ihre 18-jährigen BürgerInnen verteilt (#DiscoverEU), sollten diesem wunderbaren Projekt ein paar Zeilen gewidmet werden. Zum Einstieg einige kurze Auszüge meines (in Englisch und Deutsch verfasstem) Reisejournals, denen ich liebevoll den Hashtag #interrailmoments verpasste:

„Dieser Moment, wenn du versuchst einen übermenschlichen Balanceakt zu vollbringen, weil du im Zugklo weder Klomuschel noch Wand noch Waschbecken berühren willst.“ #interrailmoments

„Wenn dein Rucksack dem ganzen Druck besser standhält als du.“ #interrailmoments

„When you decide to sleep for a bit in a public park at 7a.m. because you didn´t sleep a wink last night in the train.“ #interrailmoments

„Wenn du nach drei Tagen Pilgerei plötzlich vor einem gut beleuchteten Spiegel stehst: Oh, meine Augenbrauen…Oh meine AugenRINGE! Sag mal, ist das Dreck oder habe ich ein neues Muttermal? Bin ich etwa schon den ganzen Tag – gasp – die letzen zwei Tage SO rumgelaufen?! #interrailmoments

Ein gelungenes Interrail-Erlebnis hängt meiner Meinung nach von drei kritischen Faktoren ab: den ReisepartnerInnen, der rahmengebenden Planung und physischer/psychischer Resilienz. Daraus leiten sich auch drei häufig auftretende Probleme ab: die Auswahl der falschen WeggefährtInnen, zu genaue/zu ungenaue Planung und quasi als Resultat ein Mini-Breakdown aufgrund von Überforderung. Wie lassen sich diese Dinge also vermeiden?

ReisepartnerIn: Dein zweites Ich

Disclaimer: Ein guter Freund oder eine gute Freundin sind nicht gleich ein/e gute/r Reisebegleiter/in. Punkt. Gemeinsames Reisen verlangt nämlich nicht nur ähnliche Interessen, sondern vor allem Koordinierung und Teamwork. Ich kann meine beste Freundin noch so doll liebhaben, aber wenn sie als Langschläferin nicht bereit ist, in der Früh zeitig für eine FreeWalkingTour aufzustehen oder um Zeit zu sparen um 6:00 einen Zug zu nehmen, dann ist die Sache nun mal gelaufen. Wenn mein langjähriger bester Freund tausend Ideen hat, aber nicht bereit ist ein bisschen zu recherchieren oder gar eine Unterkunft zu buchen, dann wird das nicht funktionieren. Wenn der eine sich für alte Bibliotheken interessiert und die andere lieber lokale Bars abklappert, führt das zu Konflikten. RomantikerInnen sind hier fehl am Platz. Denn all die kleinen nervigen Angewohnheiten, über die man normalerweise leicht hinwegsehen kann, werden im Laufe einer zwei- bis vier-wöchigen Reise (bei der man so gut wie jede Stunde miteinander verbringt) unerträglich. Das heißt nicht, dass man nur mit Menschen reisen sollte, die eine Kopie seiner selbst darstellen. Aber: Die oben genannten Aspekte müssen VOR dem Reiseantritt besprochen und diskutiert werden – findet Kompromisse. Ansonsten werdet ihr diesen Prozess während der Reise durchlaufen…was durchaus interessant, aber nicht empfehlenswert ist.

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Durchs Reisen zusammengewachsen – Bergen; Norwegen

Planung: Finde das richtige Maß

Stellt euch vor: Alle Reisenden leisten ihren Beitrag an der Planung, die Reiseroute ist rasch gefunden und Hostels wie Züge sind im Voraus gebucht. Die Fahrten verlaufen reibungslos und man schaukelt einfach so gemütlich von einer Stadt in die andere…..traumhaft. Diese utopische Vorstellung deckt sich aber nicht wirklich mit der Realität – und sie wäre auch gar nicht umsetzbar: zu genaue Planung macht nämlich unflexibel. Wer alles im Voraus bucht, ist spätestens dann in der Zwickmühle, wenn Züge gestrichen werden bzw. Verspätung haben oder wenn man einmal eine Station zu früh oder zu spät aussteigt (irren ist schließlich menschlich). Aus eigener Erfahrung würde ich raten, die allgemeine Reiseroute festzulegen und einen groben Zeitplan aufzustellen, um auch sicher noch mit einem gültigen Ticket heimfahren zu können. Zudem sollten die Zug- und Unterkunftsbuchungen zumindest 3-4 Tage im Voraus erledigt werden, damit man nicht versehentlich in einer Stadt „strandet“ bzw. nicht mehr weiterfahren kann. Empfehlenswert sind hier Apps wie „Hostelworld“ und „AirBnB“ und die „Deutsche Bahn“-App, welche auch in anderen Ländern verlässlich die korrekten Züge anzeigt.

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Hostel, Kopenhagen: Man weiß nie, was einen erwartet. Hier als Beispiel eines der besseren Hostels auf unserer Reise, das zufällig auch eine richtige Bar im Erdgeschoss hatte;)

Zudem sollte man als Reisende/r auch wissen, welche Sehenswürdigkeiten und Aktivitäten die verschiedenen Städte bieten, doch auch hier gilt: nicht alles verplanen! Erstens ergeben sich immer irgendwelche neuen, interessanten Möglichkeiten und zweitens wird es auch Tage geben, an denen man einfach nichts machen will. Reisen, planen, Rucksackschleppen – das ist anstrengend.

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Kopenhagen: einfach mal nichts tun und barfuß herumlaufen – auch ein gelungener Tag

Womit wir schon beim nächsten Punkt angelangt sind:

Physische und psychische Resilienz

Es wird nicht so laufen, wie geplant. Glaubt es mir einfach. Züge werden verpasst oder falsch gebucht, die Kreditkarte funktioniert nicht, Rucksack geht kaputt, Handyakku ist leer, der Rücken schmerzt, die Unterkunft ist zum Davonlaufen oder das Wetter spielt nicht mit. Es ist zu heiß oder zu kalt, das Gepäck ist zu schwer, der Kopf tut weh. Sich 100%ig darauf vorzubereiten ist nicht möglich, aber es hilft, Worst-Case-Szenarien durchzuspielen oder sich auf Reiseblogs schon vorab zu informieren. Mein/Unser Notfallpaket beinhaltete beispielsweise: Regenschirm, Haube und Decke (auch im Sommer kann es kalt werden!), Pflaster und Heilsalbe, Kopfwehtabletten, Handdesinfektionsmittel (Zugklo!), Klopapier, Taschenlampe, eine Extra-Tasche, Näh-Set, Besteck, PowerBank und Notgroschen. Am wichtigsten aber ist es, in Problemzeiten zusammenzuhalten und zusammenzuarbeiten. Ein schneller Krisenrat und gegenseitige Ermutigungen wirken Wunder – und in diesen Momenten wird einem trotz all der Streitereien bewusst: Es ist schön, gemeinsam zu reisen. Und im Hintergrund rappt Eminem: „We´re on this road together, through the storm; Whatever weather, cold and warm“.

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„We´re on this road together, through the storm; Whatever weather, cold and warm“

Ach…bloß nicht nostalgisch werden. So viel Interrail nämlich auch zur Persönlichkeitsentwicklung beiträgt, der erstaunlichste Effekt ist ein meiner Meinung nach ein anderer: Europa – ein geeintes Europa – wird greifbar. Ich habe die EU stets als die größte Errungenschaft Europas bezeichnet, doch erst durch Interrail habe ich den „Pan-Europäischen-Gedanken“; das, was Europa ausmacht, verstanden. Dabei meine ich gar nicht so sehr unser unglaubliches Privileg der Reisefreiheit, die für sich genommen schon einzigartig ist. Als wir in diesen 21 Tagen Nord- und Mitteleuropa bereisten, lernten wir Menschen aus fast allen EU-Ländern (und noch mehr) kennen. Unter anderem feierten wir mit Tschechinnen, lernten von Schweden, welchen wir in Hamburg über den Weg liefen, neue Kartenspiele und verstanden uns in Oslo prächtig mit unserem Guide aus Lettland. Wir alle gehören verschiedenen Nationen an, haben andere kulturelle Bräuche und unsere politischen Meinungen waren selten eins. Und trotzdem waren wir in einer Sache geeint: Ohne Ausnahme bekannten wir uns zu unseren europäischen Grundwerten: Demokratie, Freiheit, Gleichheit. Deshalb ist es auch einerlei, ob beim Anstoßen „Skål“ oder „Prost“ gelacht wird. Mögen unsere Nationalitäten verschieden gewesen sein, so waren wir doch ein Volk, das Volk Europas.
Interrail ermöglicht es, dieses Volk in all seinen Facetten, in all seiner Diversität zu sehen. Wir Europäer/innen -  ein schillerndes Mosaik hunderttausender Individuen, die gemeinsam Großes schaffen. Lasst uns darauf stolz sein!

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