Wien oder die Welt

Leben
Lizanne Daniel / 21.12.2017
Tram Wien

38. Die Straßenbahn hält. Meine Finger sind taub von der Kälte und gehorchen mir nicht, als ich den Knopf drücken möchte. Bevor ich sie mit meinem Atem wärmen und wieder zum Leben erwecken kann, öffnet sich die Tür – groß, elegant, Lippenstift und Locken. Sie sieht mich ausdruckslos an, eine Sekunde vielleicht, mehr Zeit hat sie nicht übrig. Als sie mit großen Schritten an mir vorbeieilt, fange ich ihren aufdringlichen Duft ein. Ich halte inne, bin verwirrt. Versuche ihn einzuordnen – irgendwo zwischen süßlich und herb. Oder passt blumig besser?

Die Türen beginnen sich wieder zu schließen und durchbrechen jäh mein Gedankenkarussell. Ich beeile mich, durch den Spalt ins Innere zu schlüpfen. Etwas weiter hinten erspähe ich einen freien Platz. Während ich darauf zusteuere, beginnen sich meine Gedanken von der abrupten Störung zu erholen und nehmen wieder Fahrt auf. Blumig passt wohl doch am besten, entscheide ich. Nicht zuletzt deshalb, weil ich jetzt einen anderen Geruch ausmachen kann – der ist eindeutig herb und ganz anders. Der Boden ist rutschig vom Schneematsch, die Straßenbahn rumpelt, und ich kann mich gerade noch fangen. Der Anorakärmel streift mich. Oder ich ihn. ‚Entschuldigung!‘. Er zieht es vor, mich zu ignorieren.

Endlich, der freie Platz. Ich lasse mich erleichtert fallen, meine Sitznachbarin rutscht noch ein bisschen näher ans Fenster und wendet sich diskret ab. Ich spüre die harte Lehne im Rücken und beginne meine Wirbel zu zählen. Als ich den Blick auf mir spüre, schaue ich auf, um ihm ein Gesicht geben zu können. Große blaue Augen, lange Wimpern, rote Backen. Drei, vielleicht vier Jahre alt. Sie scheint begeistert von der Idee, mit mir Kontakt aufzunehmen, lacht und winkt. Ich lächle zurück und merke selbst, wie müde und abgekämpft dieses klägliche Lächeln wirken muss, von dem hellen Kinderlachen mühelos in den Schatten gedrängt. Ich denke an Frau Blumig und Herrn Anorakärmel und frage mich, ob das kleine Mädchen in dreißig Jahren wohl immer noch Zeit haben wird, ihr Lachen an fremde Menschen in der Straßenbahn zu verschenken.

Meine Gedanken hüpfen freudig angesichts des neuen Inputs und wirbeln immer schneller. Menschen. Fremd. Ich nenne diese Großstadt noch nicht lange mein Zuhause und eigentlich bin auch gar nicht sicher, ob sie das überhaupt ist. Ich spüre noch immer das müde Lächeln auf meinen Lippen, es scheint in diesen kalten Novembertagen in meinem Gesicht eingefroren.  Ich habe mit Menschen gesprochen, die wie ich vom Land in die Stadt gezogen sind. Man gewöhnt sich daran, lernt sich abzugrenzen, einzuschränken. Weniger Tiefe, das spart Kraft. Gerüche, Geräusche und Gesichter bleiben draußen, Energie bleibt drinnen. So haben sie es mir erklärt. Seither bemühe ich mich, diesem Rat zu folgen – und habe immer mehr das Gefühl, dabei mit mir selbst zu brechen. Jetzt, in diesem Moment wieder und stärker als je zuvor.

Was ist es denn, wovor ich mich zu verschließen versuche? Sind es nicht Menschen? Und was ist das überhaupt, ein Mensch? Ich lasse den Blick schweifen und sehe Fässer. Alle gleich und doch grundlegend verschieden. Dort drüben ist die Oberfläche rau und rissig, hundert feine Schiefer warnen davor, sie zu berühren. Gleich daneben sitzt eins, das ist aalglatt und kühl glänzend. Es ist hübsch, doch ohne die kleinste Unebenheit hinterlässt es nur leere Ahnungslosigkeit.

Ich drehe mich um. Schräg gegenüber lehnt eins am Fenster, dessen Schreie so laut sind, dass sie mir in den Ohren schmerzen, doch etwas ist seltsam. Sein Gesicht ist verschlossen, es gibt nicht den leisesten Ton von sich. Und endlich erkenne ich – seine Stimme ist Farbe und seine Sprache ist Aura.

Aber nicht nur die Oberfläche der Fässer ist verschieden. Auch ihr Durchmesser. Manche sind so klein, dass es leicht ist, sie zu durchschauen. Andere sind tief, und es scheint unwahrscheinlich, jemals in ihre Mitte zu gelangen. Diese Mitte, sie ist auch etwas, wodurch sie sich alle unterscheiden. Das eine Fass trägt Menschen in sich, das andere Sorgen. Im einen liegt Stolz, im anderen Vertrauen.

Schottentor. Die Straßenbahn hält und mit ihr mein Karussell. Ich suche das Kinderlachen, sie steht schon bei der Tür, an der Hand ihrer Mutter. Und als sie sich noch einmal umdreht, um mir zum Abschied zu winken, spüre ich, wie sie in meinen Durchmesser dringt und zielsicher die Mitte durchkreuzt.

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Jugendportal.at wurde zuletzt am 17.04.2024 bearbeitet.

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