In einem fremden Land: am Anfang stand das Wörterbuch…

Reisen
Andrea Ortner / 03.04.2018
Wörter

„Ich versteh das nicht. Ich versteh das nicht. Ich bin so dumm. Wieso versteh ich das nicht?!“

          - ich; September 2017

Eine neue Sprache zu lernen, ist eines der schönsten Dinge, die man im Leben machen kann. Denn „Sprache“ ist nicht nur Wörter aufsagen. „Sprache“ ist Kultur. „Sprache“ – das sind Menschen, ist Miteinander. Eine neue Sprache ist ein neuer Aspekt, ein neuer Blickwinkel auf die Welt. Und…eine fremde Sprache zu erlernen ist verdammt schwer, langwierig und anstrengend. Aber erst mal alles der Reihe nach.

Nach dem Schulabschluss habe ich mich entschlossen, mir ein Jahr Zeit zu nehmen, um mich selbst besser kennenzulernen (oh, wie kitschig), mir Gedanken über mein zukünftiges Studium zu machen und um zu reisen. Im darauffolgenden Herbst fand ich mich dann an einer Uni wieder – nur eben in Moskau, um dort mein Russisch auf ein akzeptables Niveau zu bringen. So weit so gut. Ganz so glatt verlief es dann doch nicht immer, dafür habe ich im Angesicht unerwarteter Probleme viel über mich selbst, Kommunikation und Fehlertoleranz gelernt.

Ach, Englisch?

Den ersten Schock, der mich sofort von meinem hohen europäischen Ross holte, erfuhr ich direkt am Flughafen, als ich ankam. Moskau, die Riesenmetropole mit internationalen Flughäfen – es wäre mir nicht einmal in den Sinn gekommen, dass mein Englisch dort in etwa so nutzlos ist wie Flipflops im sibirischen Winter, zumindest bei (gefühlsmäßig) allen, die älter als 30 Jahre alt sind. Diese anfängliche Hürde stellte sich aber schon bald als wahrer Segen heraus: Man ist nicht nur gezwungen, seine Fremdsprachenkenntnisse ständig anzuwenden und auszubauen, sondern es wird einem schnell wieder bewusst, dass eine Sprache nicht nur durch Wörter an sich übertragen wird. Mimik, Gestik, Körperhaltung und Tonlage spielen eine riesengroße Rolle und helfen Inhalte zu begreifen, auch wenn man nicht jeden einzelnen Satz verstanden hat. Zuhören ist mehr als nur Schallwellen im Gehirn zu verarbeiten. Zuhören ist, sich voll auf seinen Gesprächspartner einzulassen, ihn anzusehen und die Bedeutung seiner Worte nicht nur als Produkt seines oder ihres Stimmapparates zu betrachten, sondern als etwas, das mit dem ganzen Körper ausgedrückt wird. Eigentlich wissen wir das alle, nur vergessen wir in unserer alltäglichen Muttersprachler-Comfort-Zone darauf.

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Frag doch einfach!

Der zweite Schock war die spontane Hilflosigkeit. In seiner natürlichen Umgebung findet sich der Mensch gut zurecht: Schilder weisen einem die Richtung, Durchsagen via Lautsprecher sind verständlich und zur Not googelt man halt. Doch was tun, wenn man nicht mal weiß, auf welches Schild man schauen soll, Durchsagen nichts als Hintergrundgeräusch sind und Google eigentlich auch gerade keine große Hilfe ist?! Fragen. Einfach echte Menschen nach dem Weg fragen. Passanten um Hilfe bitten. Die Frau an der Kassa. Den jungen Mann an der Bushaltestelle. Die Hundebesitzerin im Park. Die Möglichkeiten sind buchstäblich unendlich! Und wieder ist es so, dass wir doch eigentlich alle wissen, dass Hilfe nur ein „Entschuldigen-Sie-Bitte“ entfernt ist, aber lieber starren wir 10 Minuten auf die Bildschirme unserer Smartphones als einfach eine/n AnrainerIn zu fragen, wohin denn diese kleine Gasse führt! Dabei ist es so schön, auf Menschen zuzugehen. Obwohl die Moskauer/innen sogar in Russland selbst als unhöflich verschrien sind, habe ich meine Helfer/innen fast immer als hilfsbereit, höflich und interessiert erlebt. Und nicht nur einmal wurde aus einer Wegbeschreibung ein Smalltalk, dann ein Gespräch und schließlich eine kleine Erinnerung an die Menschlichkeit zwischen Betonschluchten. 

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Ohne Fehler kein Fortschritt

Ich werde hier ehrlich sein. Eine neue Sprache zu erlernen ist nicht einfach nur schwierig. Es ist mühsam, frustrierend und es geht sehr langsam. Hier ist Sitzfleisch gefragt, aber auch Kreativität: Wie lerne ich am besten und am nachhaltigsten? Der Aufwand scheint überwältigend. Und DIESE VERDAMMTEN FEHLER! Immer und immer wieder die gleichen Fehler, neue Fehler, die gleichen Fehler, neue Fehler… – da nimmt das eigene Ego schon ein wenig Schaden. Doch ohne Fehler zu machen und an ebendiesen Fehlern konsequent zu arbeiten gibt es keinen Fortschritt. Und plötzlich merkt man: immer und immer wieder Fehler….aber immer und immer weniger! Es zahlt sich wirklich aus, sich anzustrengen. Ich erinnere mich an das Glückgefühl, das mich erfasste, als ich endlich mitdiskutieren konnte, mich als Gesprächspartnerin einbrachte und sogar beim Activity-Erklärungsteil (Ja, auch in Russland wird Activity gespielt) wenig Probleme hatte. „Zu Tode betrübt“ – das war nur die anfängliche Verzweiflung im Angesicht der immensen Grammatik. Darauf folgte ein immer noch anhaltendes „himmelhoch jauchzend“!

Natürlich unterlaufen mir nach wie vor Fehler beim Sprechen und Schreiben, das ist ganz normal. Geändert hat sich aber meine Einstellung gegenüber diesen Fehlern: Anstatt mich ihrer zu schämen, sehe ich sie mir ganz genau an und verbessere sie mit Freude. Apropos schämen: Mir war es immer unglaublich peinlich, Fehler beim Sprechen zu machen, vor allem in Anwesenheit meiner russischen FreundInnen. Dafür hätte es aber überhaupt keinen Grund gegeben, im Gegenteil: Stets haben sie mir geduldig meine Fehler erklärt und mir überdies viele neue Ausdrücke und Redewendungen beigebracht. Und welche unglaublichen Abenteuer wir gemeinsam erlebt haben… Deswegen: Fehler einfach Fehler sein lassen und einfach komplett in die Sprache eintauchen!

Rückblickend kann ich sagen, dass mich der Sprachlernprozess bescheidener und achtsamer gemacht hat. Das Schönste für mich ist, dass ich viel mehr als „nur“ eine neue Sprache gelernt habe. Russisch war für mich der Schlüssel zu einer (jetzt nicht mehr) fremden Kultur, zu köstlichem Essen, schwarzem Humor und interessanten Gesprächen. Ich habe FreundInnen gefunden, die ich nie mehr missen möchte. Mein Horizont hat sich erweitert und zugleich ist die Welt für mich kleiner geworden – was einst weit und fremd war, ist mir nun vertraut und heimelig. Außerdem wurde mir bewusst, welchen Schwierigkeiten man als AusländerIn in einem fremden Land ausgesetzt ist, und dass selbst alltägliche Situationen nicht gerade einfach zu handhaben sind – etwas, das ich so schnell nicht vergessen werde. Am Anfang dieses Abenteuers stand nur das Wörterbuch…

…am Ende jedoch ein neuer Mensch.

„Oh, Sie sprechen nur Russisch? Kein Problem, давай поговорым!“

          - ich; Jänner 2018

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