It’s all about (Ex)Change

Engagement
Lizanne Daniel / 21.09.2016
Volunteer

Fähigkeiten und Interessen in einem abwechslungsreichen Berufsalltag vereinen, die Balance zwischen Intuition und Vernunft finden und neben all diesen Herausforderungen auch noch auf der Suche nach dem Selbst.

Das Bestreben, die Welt, in die wir geboren wurden, zu verstehen, beschränkt sich heute längst nicht mehr auf Generation Y. Viele offene Fragen locken ins Ausland, zu anderen Kulturen und neuen Sichtweisen. Es ist der Ruf des Unbekannten, der durch unser Zeitalter hallt.

Reisen erweist sich seit Menschengedenken als eine bewährte Methode, um eine Ahnung vom Ganzen zu bekommen. Die Nachfrage ist groß und das Angebot noch größer. HelpX ist eine der Organisationen, die Menschen eine Plattform bietet, um Erfahrungen zu sammeln und den Horizont zu erweitern. Im Wesentlichen baut HelpX auf das Prinzip, eine helfende Hand gegen Kost und Quartier zu tauschen. Welche Aufgaben der „Host“ dem „Helper“ zuteilt, in welchem Ausmaß diese Arbeit stattfindet und wie präsent dabei der Aspekt des kulturellen Austauschs oder der sprachlichen Weiterentwicklung ist, hängt von den individuellen Vorstellungen ab. Eine kurze Beschreibung von Person und Standort bietet die Möglichkeit, Menschen mit ähnlichen Interessen und Wertevorstellungen zu finden – oder eben genau das Gegenteil davon.

Ich durfte diese Erfahrung vier Wochen lang in England machen und kann HelpX jedem/jeder empfehlen, der/die eine kostengünstige Möglichkeit sucht, den eigenen Horizont im Rahmen eines bis zu einem gewissen Grad organisierten Aufenthalts zu erweitern.

 

Union Jack

 

Tag 1

7 Uhr morgens. Eigentlich keine Aufstehzeit für Ende Juli, mitten in den Sommerferien. Doch als ich schläfrig blinzelnd den fertig gepackten Koffer neben meinem Bett erspähe, sorgt ein Adrenalinkick dafür, dass ich mit einem Schlag wach bin.

Meine Euphorie umgibt mich wie ein Schutzschild, der wehmütige Abschiedsworte zuverlässig abprallen lässt. Was sind schon vier Wochen?

Die Fahrt zum Flughafen verbringe ich überwiegend damit, mein Gepäck anhand einer gedanklichen Checkliste durchzugehen. Doch mit jedem Gedanken verstricke ich mich weiter in ein Netz aus Fragen und am Flughafen angekommen weiß ich schließlich nicht mehr, ob Kontaktlinsen und Regenjacke nun eingepackt sind oder nicht. Vielleicht ist auch das flaue Gefühl daran schuld, das sich langsam in meinem Magen ausbreitet und meinen Kopf vernebelt. Ich beginne die Stunden bis zum Abflug zu zählen.

Viel zu schnell halte ich anstatt meines Koffers das Ticket in der Hand und als mich mein Vater an sich drückt und ich mich wenig später hinter dem Security-Check alleine wiederfinde, spüre ich einen ersten Anflug der Realisierung.

H37. Während ich darauf warte, dass das Boarding beginnt, schnappe ich erste englische Wortfetzen auf und die Euphorie meldet sich zurück. Sie erweist sich auch während des Flugs und bei meiner Ankunft in London als treue Reisebegleiterin.

Heathrow – Leicester. Im Bus ist es heiß und stickig. Mein Kopf dreht sich bei dem Versuch, das Prinzip der Kreisverkehre und Kreuzungen zu verstehen und es anstelle des gewohnten Rechtsdrangs zu verinnerlichen. Rechtsgelenkte Lkws ziehen an einer Landschaft vorbei, die von satten Grüntönen, sanften Formen und roten Backsteinhäusern dominiert wird.

Mit dreißigminütiger Verspätung erreichen wir schließlich die Bushaltestelle in der Universitätsstadt Leicester in den Midlands. Als ich die Hand auf meiner Schulter spüre, bin ich gerade dabei, mein Gepäck aus dem Bauch des Busses zu hieven. „Lizanne?“ Ich drehe mich um und erkenne in der blonden Frau mittleren Alters meinen Host Stephanie. Meine Erleichterung darüber, dass wir uns problemlos gefunden haben, schlägt im Auto in einen Redeschwall um, der sich bis zum Ende der Fahrt nicht stoppen lässt.

Schließlich setzt Stephanie den Blinker und lenkt mit den Worten „Here we are“ ihren dunkelroten Geländewagen in die Einfahrt eines großen heruntergekommenen Hauses im viktorianischen Stil. Die Reste weißer Farbe auf den Ziegelsteinen lassen ein wohl einst repräsentatives Bild erahnen.

Als ich aussteige, kommt John, Stephanies Ehemann, über den gepflasterten Vorplatz auf mich zu. Der lange Bart, die leicht gebückte Haltung und der weiche Blick strahlen etwas Liebenswürdiges aus und wecken sofort meine Sympathie. Als er mich anlächelt, durchziehen unzählige Furchen sein Gesicht. Er begrüßt mich mit sanftem Händedruck.

Obwohl mein Herz ein paar Takte schneller schlägt, als ich Stephanie ins Haus folge, fühle ich mich taub, als meine Turnschuhe den roten Steinboden berühren, die dunkelgestrichenen Wände mich einschließen und dieser eigenartig modrige Geruch meine Lungen füllt. Es scheint, als würde dieses Haus seine Bewohner nicht beherbergen sondern verschlucken. Draußen wärmt die Sonne den üppig blühenden Garten und kündigt einen lauen Sommerabend an, doch durch die Fenster dringt kaum Tageslicht und das Leuchten der beiden Lampen im Vorraum wird fast vollständig von den hohen massiven Regalen absorbiert, die mit den seltsamsten Dingen vollgestopft sind.

Mit einem freundlichen Lächeln führt Stephanie mich eine schmale Treppe hinauf, und wir drücken uns an ein oder zwei scheinbar überquellenden Bücherregalen vorbei zu der weißgestrichenen Tür am Ende des Ganges. „Your bedroom“. Ich bin froh, als ich die bunten Vorhänge und den dicken Teppich registriere, die ein heimeliges Gefühl vermitteln. Die Sonnenstrahlen, die durch das Fenster fallen, brechen sich im Spiegel über dem Waschbecken und werfen ein helles Muster auf die geblümte Bettdecke. Poster und Mobile lassen darauf schließen, dass es wohl einst das Kinderzimmer gewesen sein muss.

Beim Abendessen lerne ich Freda kennen. Als ich erfuhr, dass Stephanies 91-jährige Mutter vorübergehend hier wohnt, hatte ich unweigerlich das Bild einer gebrechlichen und auf Hilfe angewiesenen alten Dame vor Augen. Dass dies aber genau jenes Bild ist, gegen das sich Freda vehement wehrt, wird mir schnell klar, als sie mir zur Begrüßung verschwörerisch zuzwinkert. Ihre Augen sind flink, ihr Geist klar und ihr freches Kichern, wenn sie über ihre eigenen Witze lacht, wird mir noch lange in Erinnerung bleiben.

 

Tag 7

Es war die erste Nacht, in der ich halbwegs gut geschlafen hatte. Als ich die Decke zurückschlage und mich aufsetze, zuckt der mir inzwischen vertraute Schmerz meine Wirbelsäule entlang. Wie jeden Morgen werfe ich der Federkernmatratze einen vorwurfsvollen Blick zu, als könnte ich sie damit zu etwas mehr Komfort überreden.

Während ich an mein Bett zu Hause denke, in das ich mich so viele Male fallen gelassen habe ohne dabei einen Gedanken an diese Selbstverständlichkeit zu verschwenden, schlüpfe ich in meine mit Erd- und Grasflecken versehene Jeans und streife ein ebenso dreckiges T-Shirt über.

Meine Laune stürzt senkrecht in den Keller, als ich die Haustür öffne und den Nieselregen registriere, der aus dem endlosen Nichts einer grauen Wolkendecke zu fallen scheint. Ich verharre einige Augenblicke auf der Schwelle bis mir klar wird, dass ich meine Arbeit dadurch nur hinauszögere. Mit einem tiefen Seufzen ziehe ich meine Kapuze über den Kopf und stapfe schwerfällig Richtung Stall. Nach wenigen Schritten sind meine Turnschuhe durchnässt.

Auch Cedar, Stephanies im Westernstil ausgebildete Fuchsstute, scheint das Wetter heute zu nass, denn sie kommt schneller als gewöhnlich in den Unterstand, um sich über ihr Frühstück herzumachen. Meine Hände schließen sich fest um die kalten rutschigen Griffe der Schubkarre, feine Regentropfen benetzen meine Wangen und lassen mich frösteln. Ich denke an England und an Wetter und an Klischees. Doch als ich wenig später die Hühner aus dem Stall lasse und das noch warme Ei in meiner Hand wiege, das ich unter dem dicken Strohpolster gefunden habe, fällt mir wieder ein, wie froh ich bin, hier sein zu dürfen.

 

Horse

 

In der Küche hat John schon den Frühstückstisch gedeckt. Brombeeren aus dem Garten, Gemüse aus der „Veggie-Box“ (ein lokales Projekt, um den regionalen Gemüseanbau zu unterstützen).

Dann wird der Tagesplan besprochen, und die Aufgaben werden verteilt. Für mich steht heute „Weeding“ auf dem Programm - dieses Mal ist es das Unkraut zwischen den Steinplatten im Vorgarten, das Stephanie ein Dorn im Auge ist. Und so mache ich mich nach dem Abwasch mit Handschuhen und Spaten bewaffnet an die Arbeit. Skipper, der liebenswürdigste, freundlichste und zuvorkommendste Hund, den ich jemals kennengelernt habe, leistet mir netterweise Gesellschaft.

Am Nachmittag nimmt Stephanie mich mit zum Sandplatz. Die Reitstunden auf Cedar lassen mich immer sehr schnell aufgeschürfte Knie und schmerzende Hände vergessen, denn es ist faszinierend, mit welcher Sensibilität das Pferd auf Hilfen reagiert und wie stark das Band zwischen ihm und seiner Besitzerin ist.

Am Abend wird gemeinsam gekocht. Die Rezepte werden im Sommer überwiegend von der Gemüseernte im Garten bestimmt oder anders ausgedrückt: Zucchiniauflauf, Zucchininudeln, Zucchinikuchen. Zucchini gebraten, Zucchini gedünstet, Zucchini gekocht. Und sogar Zucchini frittiert. Aber immerhin jeden einzelnen davon eigenhändig geerntet.

 

Ich durfte während meiner Wochen als HelpX erfahren, was es heißt, ein Leben nach dem Prinzip „low on technology“ zu führen. Ich lernte Menschen kennen, die bewusst verzichten und sich auf jene Dinge fokussieren, die wirklich zählen. Ich vermisste und ich lernte zu schätzen. Ich hörte zu und begriff. Und ich sammelte viele Geschichten.

 

Infos zu HelpX:
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Jugendportal.at wurde zuletzt am 23.04.2024 bearbeitet.

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